Liebe Leserinnen und Leser,

im Zuge der der Unterstützung von Paaren, die sich scheiden lassen wollen, führe ich viele Elternberatungen durch. Diese Beratungen sollen Eltern helfen, wie sie ihre Kinder während der Scheidung aber ganz besonders danach begleiten und unterstützen können. Im diesem Newsletter möchte ich der Frage nachgehen

Können Scheidungskinder wirklich glücklich werden?

Der überwiegende Teil der  Literatur zu diesem Thema beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Unglück von Scheidungskindern. Es wird darin beschrieben, wie schlecht es Kindern geht bzw. welche Folgen es für ihr Leben bedeutet, wenn sich die leiblichen Eltern scheiden lassen. Meiner Erfahrung nach ist dies jedoch zu schnell geurteilt. Wenn sich Eltern streiten, fühlen sich Kinder mitunter selbst abgelehnt. Selbst wenn Eltern nicht vor den Kindern streiten, so spüren Kinder den Konflikt. Ist dem ständigen, wenn auch unausgesprochenen Konflikt für Kinder tatsächlich der Vorzug vor einer Trennung zu geben? Hierauf gibt es freilich keine eindeutige Antwort, kommt es hier doch sehr stark auf die Umstände an, dh in erster Linie wie die Trennung seitens der Eltern erfolgt.

In einem Interview diskutieren Helge-Ulrike Hyams (Professorin für Pädagogik an der Universität Bremen) und Remo H. Largo (Professor für Kinderheilkunde und Leiter der Abteilung Wachstum und Entwicklung am Universitäts-Kinderspital Zürich) zum Thema Scheidungskinder und deren Glück.

Frau Prof. Hyams berichtet von Studien, die zeigen, dass sich Väter nach einer Scheidung immer mehr zurückziehen. Dies hat zum einen seinen Hintergrund darin, dass 90 % der Scheidungskinder bei der Mutter leben. Manche Väter ziehen sich von sich aus zurück, andere werden von den Frauen ausgegrenzt. Zwei Jahre nach der Scheidung hat etwa nur noch jeder zweite Vater Kontakt zu den Kindern.

Dem entgegnet Prof. Largo, dass sich bei einem Blick auf die Familienkonstellation während aufrechter Ehe zeigt, dass der Vater bereits während „aufrechter Ehe“ wenig Beziehung zu seinen Kindern hatte. Beziehungen gründen sich auf gemeinsamen Erfahrungen. Wenn ein  Vater dies vor der Scheidung selten gemacht hat, dann hat er nachher auch kaum eine Chance mehr. Der Vater muss sich von Beginn an auf eine Beziehung mit einem Kind einlassen und darf nicht warten, bis es beispielsweise groß genug ist, um mit ihm Fußball spielen zu gehen. Dann kann es zu spät sein, um eine Beziehung aufzubauen. Mütter grenzen den Vater manchmal aber auch bewusst aus. Sie wollen allein für die Kinder „zuständig“ sein; die einzige Bezugsperson für das Kind sein. Meiner Erfahrung nach handelt es sich aber nicht um ausschließlich scheidungsspezifische Konflikte; steckt hier der Wurm doch schon „zuvor“ als alle noch von „Familie“ gesprochen haben, drin.

Zurück zum Thema Scheidung und die Bedürfnisse der Kinder. Kinder wollen keine Scheidung, weil sie Angst haben, verlassen zu werden. Daher ist, so Prof. Largo, das einzige das zählt, die Erfahrung, dass sie nach einer Scheidung nicht verlassen werden. Kinder können – bis zu einem gewissen Alter – nicht allein sein. Die Beziehung zu Mutter und Vater ist absolut und unkündbar, auch wenn Sie sich auf Paarebene trennen. Was heißt der – aus Kindersicht – komische Satz „Meine Eltern lassen sich scheiden“? Kinder können mit dem Wort „Scheidung“ nichts anfangen.

Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Zuwendung bekommen Kinder nicht nur von Eltern, sondern auch von Großeltern oder anderen Bezugspersonen. Daher ist es insbesondere wichtig, dass die Betreuung des Kindes durch diese Personen  auch nach der Trennung erhalten bleibt. Dies ist die wichtigste Voraussetzung für eine gelungene Trennung. Ob die Bedürfnisse eines Kindes abgedeckt werden oder nicht, ist nicht an ein Familienmodell gebunden, meint Prof. Largo.

Dahingehen vertritt Prof. Hyams die Ansicht, dass ein Kind nicht mit einem Elternteil alleine zusammenleben soll. In diesem Fall ist das Kind diesem Elternteil komplett ausgeliefert und es darf nie einen ernsthaften Konflikt riskieren, weil es dann von der einzigen Person abgelehnt werden könnte, die es noch hat. Das führt zu großen Verlassens-Ängsten. Darüber hinaus identifiziert sich ein Kind nicht nur mit einem Elternteil, sondern mit der Beziehung der Eltern zueinander. Vor diesem Hintergrund vertritt Hyams auch die Ansicht, dass Scheidungskinder in weiterer Folge selbst zu Scheidungseltern werden.

Dem ist jedoch aus meiner Erfahrung entgegen zu halten, dass Kinder über Vorbilder sozialisiert werden. Sie nehmen nicht irgendein Verhalten an, sondern nur ein vorgelebtes. Es ist die Entscheidung des Kindes, was es von dem vorgelebten Verhalten annehmen möchte und was nicht. Ist eine Beziehung voller Ablehnung oder sind sich die Eltern zugetan und unterstützen sich gegenseitig vielleicht auch nach der Trennung? Es hängt nicht vom institutionellen Rahmen ab. Kinder beobachten sehr genau, wie sich Mutter und Vater bzw. in weiterer Folge, wenn ein oder beide Elternteile eine neue Beziehung eingehen, wie die Partner sich zum Elternteil verhalten. Die Kinder lernen daraus. Sollte es demnach zur Trennung der Eltern kommen, ist für das Wohl des Kindes vielmehr relevant, wie die Eltern den Umgang miteinander – gegeneinander fortan pflegen.

In Studien wurde u.a. auch herausgefunden, dass sich in Scheidungsfamilien, in denen es den Kindern gut geht, es den Eltern gelungen ist, ihre negativen Gefühle zueinander weitgehend abzubauen. Diese Eltern instrumentalisieren ihre Kinder nicht, um ihren persönlichen Streit auszutragen. In der Praxis erfolgt dies jedoch leider noch sehr selten. Weil man „den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht“ und weil bei einer Scheidung viele Emotionen mitspielen, kann es zum eigenen Wohl aber auch zum Wohl der Kinder eine Beratung unterstützend sein.

Herzliche Grüße,

Natascha Freund

Zitate aus GEOWissen Nr. 34/2004

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