Eltern haben ihr Kind ausschließlich zu Hause unterrichtet. Die Externistenprüfung hat das Kind ab der 3. Schulstufe nicht mehr abgelegt, weil diese im Widerspruch zur eigenen Erziehungspädagogik der Eltern steht. Auf Antrag des Stadtschulrates für Wien wurde den Eltern die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung in schulischen Angelegenheiten entzogen.
Zum Hintergrund:
Der minderjährige Sohn, geboren 2005, lebt gemeinsam mit seinem um drei Jahre jüngeren Bruder bei seinen Eltern. Die Eltern sind beide freiberuflich tätig und nach eigenen Angaben in der Zeitgestaltung selbstbestimmt. Der Sohn besuchte keinen Kindergarten, weil kein Kindergarten gefunden werden konnte, der mit der Philosophie bzw. Pädagogik der Eltern zusammenpasste. Die Eltern meldeten ihn vom verpflichtenden Kindergartenjahr ab und betreuten ihn zu Hause.
Ab der Schulpflicht wurde er zum häuslichen Unterricht abgemeldet. Er besuchte niemals eine Schule, sondern wurde und wird von den Eltern zu Hause betreut und unterrichtet. In den ersten beiden Schuljahren legte er die gesetzlich vorgesehene Externistenprüfung mit Erfolg ab. Die Externistenprüfung für die 3. Schulstufe (Schuljahr 2013/2014) legte der Sohn nicht ab, weil die Eltern die Form der Externistenprüfung im Widerspruch zu ihrer eigenen Erziehungspädagogik sehen und daher ablehnen. Auch später trat er zu keiner Externistenprüfung mehr an.
Die Eltern wechseln einander täglich mit der (Erwerbs-)Arbeit und der Kinderbetreuung ab. Zunächst findet ein gemeinsames Frühstück statt. Dann wird der Haushalt unter Beteiligung der Kinder erledigt. In der Folge „geht jeder Einzelne seinen Dingen nach“. Klassischer Unterricht in der Form, dass aus Büchern oder sonstigen Lehrmitteln gelernt würde, findet nicht statt. Die Eltern arbeiten mit dem Sohn den für jede Schulstufe vorgesehenen Lehrplan nicht durch, antworten jedoch auf seine Fragen.
Die Kinder lernen, indem sie Wünsche äußern und dann gemeinsam mit den Eltern Kurse suchen. So hat der Sohn einen Töpferkurs und einen Kurs bei der Freiwilligen Feuerwehr besucht. Rechnen wird etwa durch „Geschäftsmann spielen“ oder durch den Verkauf von Eintrittskarten für „Zaubershows“ gelernt. Schreiben wird zB durch Anfertigung von Briefen erlernt. In der Familie wird mit den Kindern regelmäßig gekocht. Durch viele Brett- und Sachspiele werden Sachinhalte vermittelt, etwa in welchen Ländern welche Tiere leben oder wo sich diese Länder befinden. Manche Fertigkeiten wie Messen oder Gartenarbeiten erlernt der Sohn beim Bau eines Holzhauses im Garten. Er interessiert sich für Gitarre und spielt damit, textet und lernt Noten.
Mit Schreiben vom 27. 7. 2015 beantragte der Stadtschulrat für Wien beim Erstgericht, den Eltern gemäß § 181 Abs. 2 ABGB die Obsorge für den Sohn zu entziehen. Die Eltern verhinderten die Erfüllung der Schulpflicht und lehnten auch die Externistenprüfungen ab. Gespräche mit den Eltern hätten nichts gebracht. Es bestehe die Sorge, dass der Sohn durch die verweigernde Haltung der Eltern einen großen Bildungsverlust erleide. Dadurch sei das Wohl des Sohnes beeinträchtigt.
Im Rahmen der Verfahren wurde festgestellt, dass das Kind ein offenes, freundliches, glückliches und zufriedenes Kind, das in seinem Erleben und Verhalten keine Auffälligkeiten und Defizite aufweist. Er ist emotional sehr gut entwickelt und weist ein ausgeprägtes Empathievermögen auf, er verfügt über gute Sozialkompetenzen. Er kann sich gut selbst beschäftigen und mit sich alleine sein. Er hat ein großes soziales Netzwerk und verbringt viel Zeit in Gruppen.
Im schulischen Bereich zeigen sich große Lücken und er ist diesbezüglich auf dem Stand der 2. Klasse Volksschule. Im Bereich des Allgemeinwissens weist er im Vergleich zu Gleichaltrigen deutliche Rückstände auf. Er schreibt überdurchschnittlich langsam in Druckbuchstaben und die Wörter schreibt er erst nach einer längeren Nachdenkphase richtig. Für die englische Sprache fehlen ihm ein Gefühl für die Sprache, die Freude am Erlernen derselben und auch grammatikalische Grundregeln. In Mathematik hingegen sind die Grundkenntnisse so gering, dass ein Nachholbedarf von 4 Jahren besteht.
Der Oberste Gerichtshof sprach sodann aus, dass die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl ihres Kindes gefährden. Die Gefährdung des Kindeswohls liegt nicht nur in den Wissenslücken, sondern auch im Fehlen von Nachweisen über Schulabschlüsse, wodurch das Kind in seinen künftigen Entwicklungsmöglichkeiten (Studium, Berufsausbildung) erheblich beeinträchtigt wird.
Der Oberste Gerichtshof entschied daher, dass die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung in schulischen Angelegenheiten und damit auch der Vertretung in diesem Bereich vorläufig von den Eltern auf das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen wird. Den Eltern wurde dabei jedoch aufgetragen, mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger bei der Erfüllung von dessen Pflicht, die Wissenslücken des Kindes zu beseitigen, zu kooperieren.
Den Eltern wurde die Übertragung der gesamten Obsorge jedoch nicht entzogen, weil, von den schulischen Belangen abgesehen, eine Gefährdung des Kindeswohls nicht vorliegt. Sollten aber die Eltern mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger nicht kooperieren, könnte dies künftig den gänzlichen Entzug der Obsorge im Rahmen der vollen Erziehung notwendig machen.
Quelle: OGH 25. 9. 2018, 2 Ob 136/18s