Eine kleine Geschichte vom Schutzengel

 

Die Sterne leuchteten bereits am Firmament, als der Himmlische seine Heerscharen um sich versammelte.

„Ich brauche einen von euch, der sogleich als Schutzengel auf die Erde hinabfliegt“, ließ er sich vernehmen.

„Warum?“, fragte ein kleiner Engel mitten in die himmlische Stille hinein.

„Weil dort ein Mensch lebt, der nicht immer so gut mit sich zurechtkommt“, lautete die Antwort.

„Warum?“, ließ sich der Kleine erneut vernehmen.

„Er denkt oftmals nicht genug über sein Handeln und dessen Folgen nach.“

„Warum?“, kam es wieder aus der Kehle des Kleinen.

„Jetzt höre endlich mit deinem ewigen „Warum“ auf!“, mahnten ihn die Oberengel, „und sei still, wenn der Himmlische uns etwas zu sagen hat!“

Der Kleine zuckte ob dieser mahnenden Worte zusammen und aus Furcht, selbst ausgewählt zu werden, versuchte er gerade, sich unter der Schar der anderen Engel zu verbergen, als der Himmlische ihn auch schon aus der Menge hervorrief:

„Du wirst dich auf die Erde hinab begeben und just auf diesen Menschen achtgeben, damit ihm kein Unglück widerfährt!“

Im Himmel war es so üblich, dass man auf die Anweisungen des Himmlischen keine Widerworte zu geben hatte – und so blieb dem Kleinen nichts anderes übrig, als sich besagtem Menschen zu nähern und auf ihn aufzupassen.

Es dauerte auch nicht lange, als der Mensch frühmorgens noch etwas verschlafen, in seinen Wagen stieg. Er war schon spät dran und um seinen Termin nicht zu versäumen, gab er mehr Gas, als erlaubt war. Die Bremsen quietschten, doch der Wagen kam im letzten Augenblick zum Stehen, so dass sich kein Unfall ereignete.

Hat ja gerade noch geklappt, dachte der kleine Engel bei sich selbst, obwohl er sich mit Autos und Bremssystemen nicht besonders gut auskannte. Er war mit seinem Eingreifen und somit auch mit sich völlig zufrieden.

Einige Zeit später verlockte das sonnige Wetter den Menschen, zusammen mit einigen guten Bekannten einen Ausflug ans Meer zu unternehmen. Dem kleinen Engel war es hier viel zu heiß, denn im Himmel herrschte stets eine luftige Kühle. Manchmal suchte er hinter dem Strandkorb nach ein wenig Schatten, ohne jedoch den Menschen dabei aus dem Blick zu verlieren. Die Freundinnen und Freunde hatten viel Spaß miteinander. Schließlich öffneten sie eine Flasche Sekt, um sich zu erfrischen.

„Kommt, jetzt gehen wir ins Wasser!“, rief der Mensch übermütig. Einige warnten; „Da hängt die rote Fahne, heute ist Badeverbot.“

Der Mensch aber lachte nur und schwamm weit hinaus. Doch die Unterströmung war so stark, dass sie den Menschen mitriss. Verzweifelt hob er die Arme. Am Strand versammelten sich schon ein paar Schaulustige.

Du liebe Zeit, ich kann nicht schwimmen, durchfuhr es den kleinen Engel. Mit seinem kräftigen Engelsatem bewegte er das Herz eines Mannes, sich mutig in die Fluten zu stürzen. Dem gelang es in aller letzter Minute, den Menschen zu packen und heil ans Ufer zu bringen.

„Na, das ist ja noch mal gut gegangen“, flüsterte der kleine Engel. „So anstrengend hatte ich mir die Aufgabe als Schutzengel wirklich nicht vorgestellt.“

Kaum waren ein paar Wochen vergangen, als er einen gellenden Schrei aus dem Wohnzimmer hörte. Der Mensch war auf eine Leiter gestiegen und hatte offenbar sein Gleichgewicht verloren.

Dem kleinen Engel gelang es gerade noch zu verhindern, dass der Kopf des Menschen auf eine Metallkante prallte, was sein sicheres Ende bedeutet hätte.

Der Arzt diagnostizierte mehrere Rippenbrücke und ein paar Prellungen.

Als Freundinnen, Freunde und Familienangehörige den Menschen am nächsten Tag im Krankenhaus besuchten, gab es viele Fragen: „Wie konnte so etwas nur passieren?“, „Warum hast du denn nicht besser aufgepasst?“,

„Hattest du keinen Schutzengel?“

„Daran glauben doch nur Kinder“, lachte der Mensch.

Der kleine Engel war durch diese Worte tief gekränkt. Offenbar hatte bisher niemand wahrgenommen, wie oft er den Menschen bereits vor Schlimmeren bewahrt hatte. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als im Krankenzimmer weiterhin seine Flügel behütend über ihm auszubreiten.

Wie kann ich ihn nur von unserer Wirklichkeit überzeugen?, dachte er bei sich. Doch mitten in der Nacht kam ihm plötzlich eine Idee.

Eigentlich gehört sich so etwas ja nicht für einen Engel, ging es ihm durch den Kopf. Aber der Himmlische war schließlich weit weg und so entschloss er sich, seinen Einfall sogleich in die Tat umzusetzen.

Schon bald hörte er, wie sich der Mensch unruhig im Bett umherwälzte, stöhnte und immer wieder schweißgebadet auffuhr.

Am kommenden Morgen lag er bleich in den Kissen.

„Was ist denn mit Ihnen passiert?“, fragte die Krankenschwester, als sie das Frühstück brachte. „Sie sehen ja völlig erschöpft aus.“

„Das bin ich auch“, antwortete der Mensch. „Ich habe die ganze Nacht von Unglücksfällen geträumt, die ich schon erlebt habe, und jeder endete in einer Katastrophe. Nach meinem Autounfall saß ich stundenlang blutüberströmt am Lenkrad, aber es kam keine Hilfe. Beim Baden im Meer standen Hunderte am Ufer und winkten mir fröhlich zu, als mich die Wellen immer weiter hinaustrugen, bis ich ertrank. Und als ich von der Leiter fiel, schlug ich mir den Kopf an einer metallenen Kante auf. Just in dem Augenblick bin ich aufgewacht.“

„Da werden Sie wohl stets einen Schutzengel gehabt haben“, meinte die Krankenschwester.

„Glauben Sie daran?“

„Ich bin fest davon überzeugt, dass es Mächte und Kräfte gibt, die uns vor Schlimmem bewahren.“ Erwiderte die junge Frau. „Das habe ich auch schon erlebt.“ Der Mensch sah sie erstaunt an.

„Aber trotzdem sollte man immer gut auf sich selbst aufpassen, damit man den Schutzengel nicht überstrapaziert“, schmunzelte sie.

„Da haben Sie wohl Recht.“ Der Mensch war ganz ernst geworden. „Aber jetzt freue ich mich erstmals auf das Frühstück.“

Der kleine Engel hatte während dieses Gesprächs hinter der Gardine gelauscht. Da hat mein Einfall ja doch etwas genutzt, lächelte er verschmitzt. Zur Entschädigung für die unruhige Nacht, die er dem Menschen beschert hatte, fächelte er ihm etwas kühle Luft zu, damit dieser sich erholen und nach dem Frühstück in Ruhe noch etwas schlafen konnte.

Wir Schutzengel sind auf Erden eben doch wichtig, auch wenn wir nicht immer wahrgenommen werden, dachte er. Und so schwor er sich in seinem letztlich doch sehr liebevollen Engelherzen, auf diesen Menschen auch in Zukunft achtzugeben. Und da er ja nun schon mal in Übung war, gelobte er, zugleich alle anderen zu behüten, wenn sie auf irgendeine Weise in Gefahr gerieten. Ganz sicher auch dich!

 

Bleib behütet

Möge es immer einen Engel geben,

der ein Auge der Liebe auf dich hat,

der dich aus den Gefahren

des Lebens errettet und dich vor

einem schlimmen Unglück bewahrt.

Möge es immer einen Engel geben,

der dir seine segnende Hand reicht

und dich behütet

vom Aufgang des Morgensterns

bis zum Ende der Nacht.

 

Quelle: Christine Spilling-Nöker, „Bleib behütet!“

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