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Pflichtgefühl als Familienherausforderung

Letztes las ich einen Artikel in der Zeit (Nr 19/22, vom 5.5.22) mit der Überschrift: „Was schulden wir unseren Eltern?“ Es ging um die Frage, was wir unseren Eltern geben müssen, wenn sie alt, krank und pflegebedürftig sind. Es ging auch um die Erwartungen der Eltern an uns und überhaupt um die Frage, was dürfen Eltern heutzutage noch erwarten bzw. dürfen sie etwas erwarten? Vielleicht haben Sie über diese Frage auch schon nachgedacht. Wie verhalten Sie sich? Engagieren Sie sich stark aus Dankbarkeit, dass sich Ihre Eltern in Ihrer Jugend um Sie gekümmert haben? Oder tun Sie es aus Pflichtgefühl? Oder kümmern Sie sich gar nicht, weil Sie Ihre Eltern in anderen Händen (Geschwister, Pflegeeinrichtung) gut betreut wissen? Was „darf“ man tun / denken in dieser Lage?

Es wird wohl jeder / jede ein bisschen anders sehen, seine / ihre eigene Welt einbringen und darum gibt es auf die Frage „Was schulden WIR…“ wohl keine konkrete, kollektive Antwort. Und der Begriff des „Schuldens“ kann auch hinterfragt werden. Wer gibt uns diese Hypothek mit? Sind wir qua Geburt Schuldner unsere Eltern und sie unsere Gläubiger? Ich gebe zu, die Frage verändert sich.

Viele ältere Menschen brauchen Unterstützung und es ist für die meisten sehr viel unangenehmer, dieses Leben zu führen als für uns. Sie müssen sich umstellen, erkennen, was nicht mehr so gut geht und manchmal Einschränkungen erkennen und hinnehmen. Angenehm ist das vermutlich nicht. Gleichzeitig wachsen die Jüngeren in eine Welt hinein, die viel mehr fordert und sich viel schneller bewegt als zur Zeit unserer Kindheit. Ausbildung, Beruf, Familie, Beziehung,…. alles ist dem Wandel unterlegen und wird optimiert. Zeit für die Eltern?… Schwierig, aber zum Glück für viele, wurde dieser Bereich ja auch professionalisierst. Kaum noch ein Senior /Seniorin lebt „auf dem Hof“, den nun die Jüngeren bewirtschaften.

Und noch dieses: auch wir werden einmal alt und bedürftig. Was erwarten wir dann von unseren Kindern? Worauf dürfen wir hoffen? Ich kenne einige Menschen, die die Frage des eigenen Alterns gerne verdrängen.

Viele Menschen haben ja auch kein entspanntes Verhalten zu ihren Eltern. Das kann die Frage nach Pflicht und Empathie als UnterstützerIn nochmal ein Stück schwieriger machen. Viele wollen auch, eine gute Tochter oder ein guter Sohn sein. Dafür macht man sich oft von der Interpretation abhängig, was die Eltern wohl über die eigenen Handlungen denken würden, statt sich selbst zu fragen, ob das was man tut gut und genug ist. Muss man seinem dementen Vater jede Woche im Altersheim besuchen, wenn er einen nicht mehr erkennt? Reicht es ev. auch aus, anzurufen, wenn man so ins Gespräch kommt und er die Stimme erkennt und plaudert?

Eine für mich überzeugende Erklärung findet sich am Ende des Artikels. Dort heißt es: „…, dass das Band zu den Eltern trotzdem nie ganz reißt. Denn Eltern, die in ihrer Rolle nicht völlig versagt haben, bleiben für immer die Menschen, die für uns da waren in den ersten Jahren, als wir noch gar nichts konnten, die uns Essen, Trost und Wärme gaben, die elementare Dinge beibrachten. Und aus dieser Bindung, die meist stärker sei als alles, was danach schieflief, ergebe sich am Ende, wenn die Zeit einem davonrennt, das „zutiefst menschliche Bedürfnis“, den Eltern etwas zurückzugeben.“ Insofern ist es wohl weniger eine aktive Entscheidung als mehr eine unterbewusste Handlung?!

Denken Sie gerne darüber nach, wie es bei Ihnen ist.

 

 

Ist Online alles erlaubt?

Geht eine Partnerschaft zu Ende, dann liegt dem oft ein Streit zu Grunde. Und einige Menschen haben mit dem Ende der Partnerschaft die Kommunikation darüber nicht abgeschlossen, insbesondere wenn es um gemeinsame Kinder geht. Das, was sie dem (Ex-)Partner sagen möchten, sagen oder schreiben sie dann oft ins Internet, und dabei geht es nicht immer freundlich zu. Ein aktueller Fall belegt dies:

Der Streit zweier Ex-Partner um Obsorge und Kontaktrecht für ihre drei Kinder ist kürzlich bis zum Obersten Gerichtshof (OGH) gegangen: Denn die Mutter veröffentlichte auf ihrem öffentlich einsehbaren Facebook-Konto ein Posting, in dem sie ihren Ex unter anderem beschuldigte, ihr die Kinder zu entfremden. Ihrem Ex-Mann unterstellte sie „negative Motivation“. Darunter schrieben Nutzer negative Kommentare über den Vater und seine Eltern.

Der Vater behauptete eine Verletzung seiner Privatsphäre und des Rechts auf Familienleben. Die Mutter argumentierte mit ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung. Der OGH gab dem Vater recht: Der Frau ginge es nur darum, Stimmung gegen Ex und Pflegschaftsgericht zu machen. Ihre Angriffe seien nicht geeignet, ihre Rechte durchzusetzen. Außerdem leiste sie keinen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse. Die Frau muss Posting und Kommentare löschen.

Der Mann hat diese Entscheidung mit einem Antrag gemäß § 382g Exekutionsordnung eine sogenannte „Stalking“-Einstweilige-Verfügung (EV) durchgesetzt. Es hat sich gezeigt, dass eine „Stalking“-EV ein zielführendes Verfahren sein kann, um sich gegen unliebsame Postings und Kommentare im Netz zur Wehr zu setzen.

Bei der „Stalking“-EV erlässt das Bezirksgericht auf Antrag eine einstweilige Verfügung zum Schutz vor einem Eingriff in die Privatsphäre. Das Gericht kann zum Beispiel die Verbreitung personenbezogener Daten verbieten. Alternativ dazu kommt ein Vorgehen gemäß der „Hass im Netz“ Regeln in Betracht: Bei schwerwiegenden Rechtsverletzungen, die die Menschenwürde berühren, kann beim Bezirksgericht die Löschung beantragt werden, und zwar ohne vorangehende Verhandlung. Als dritte Möglichkeit steht Betroffenen das Kommunikationsplattformen-Gesetz zur Verfügung. Hat eine Plattform mehr als 100.000 Nutzer und erzielt einen Umsatz von mehr als 500.000 Euro, dann muss der Betreiber ein schnelles Verfahren einrichten, wo strafrechtswidrige Inhalte gemeldet werden können. Ist das Posting „offensichtlich rechtswidrig“, ist binnen 24 Stunden zu löschen. Braucht es eine Prüfung, hat der Betreiber sieben Tage Zeit.

Wer allerdings seine Kommunikation und Streitigkeiten nicht öffentlich über soziale Medien austragen möchte, der kann auch eine psychotherapeutische Begleitung, ein Coaching oder eine Familienberatung in Erwägung ziehen. Auch wenn man kein Paar mehr ist, auf der Elternebene bleibt man verbunden und vielleicht vermeidet man, dass die Kinder mitlesen können, welche „Freundlichkeiten“ man über das Internet austauscht.

Quelle: apa.at

Gudrun Halbrock

Kennen Sie Gudrun Halbrock? Nein? Ich bis vor kurzem auch nicht, bis ich 2 Interviews mit ihr las – in den Zeitschriften „Die Zeit“ und „Der Spiegel“.

Gudrun Halbrock zeichnet sich durch folgende Besonderheiten aus: Zum einen ist sie 95 Jahre alt und das ist auch heute noch eine Seltenheit. Zum anderen arbeitet sie noch als Therapeutin für Kinder und Erwachsene. Sie berät also Eltern und Familien zum Beispiel bei Fragen der Kindererziehung und dass, nachdem Sie die Ausbildung zu diesem Beruf erst mit Mitte 50 begann.

Nun könnte man meinen, die Frau sei doch zu alt, zu unmodern oder unwissend, was Beratung in der heutigen Zeit angeht. Und warum tut sie sich das überhaupt an. Darauf hat sie eine Antwort, die so erfrischend ist, dass ich sie unkommentiert zeige:

„Ich bin doch nicht blöd und sitze auf dem Sessel und lese nur Zeitung. Ich sehe etwa zehn Patienten pro Woche und erlebe, wie dankbar sie sind, dass ich so viel Erfahrung habe. Ich staune auch immer wieder über mich selbst, dass mir in den Sitzungen stets einfällt, was die einzelnen Patienten und Patientinnen brauchen.“

Wenn man das liest, dann denkt man unwillkürlich an die Kindererziehung von heute. Hat man alles richtig gemacht? Was ist mit den Helikoptereltern? War es früher strenger? Schenken wir unseren Kindern heute genug oder zu viel Aufmerksamkeit und Freiraum?

Frau Halbrock hält es daher für sinnvoll, wenn Eltern die Kindererziehung erlernen und zwar nicht „am Kind“, sondern theoretisch bzw. von einer Institution angeleitet. Sie vergleicht es mit dem Autofahren, für das man sein Können auch mit einer Führerscheinprüfung nachweisen muss, bevor man auf die Straße gelassen wird.

„Viele Eltern lassen sich in ihrer Erziehung keine Vorschriften machen (…). Vor vielen Jahren sah ich eine Sendung darüber, wie Hunde wertschätzend trainiert werden können. Da dachte ich, dass es auch ein Training für Eltern geben muss. Sie kriegen doch Erziehungsgeld. Ja, für welche Erziehung denn? Das Elterngeld darf es nicht nur fürs Wohnen und für die Ernährung der Kinder geben. Eltern müssten einen Nachweis über ihre Erziehungskompetenz erbringen. Ein achtwöchiger Kurs mit wöchentlich zwei Stunden, das ist das Minimum.“

Interessant finde ich, dass wir viele Dinge im Leben tun, ohne darauf vorbereitet zu sein. Sowohl was Beziehung als auch Familie und Kinder angeht – wir müssen probieren – und viele scheitern daran. Bei Kindern kommt hinzu, dass es sich um Wesen handelt, die zu Beginn von uns und unseren richtigen oder falschen Entscheidungen abhängig sind – ein bisschen Training schadet vielleicht nicht.

In Österreich gibt es die sogenannte Erziehungsberatung. Sie kann gerichtlich angeordnet werden, wenn es Probleme in der Erziehung gibt, zum Beispiel wenn sich Eltern trennen und negatives Verhalten an den Kindern oder über die Kinder ausgelebt wird. Schon oft habe ich als Beraterin erlebt, wie schwierig es ist, in einem solchen Kontext mit Kindern, die vielleicht 12 oder älter sind, Dinge wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Was wäre anders, wenn alle Eltern ein Training, wie von Frau Halbrock angedacht absolvieren würden?

Egal wie, der Kontakt zum Kind erscheint mir wichtig. Ein Tipp von Frau Halbrock, dem ich mich voll anschließen kann, betrifft die Kommunikation:

„Sie sollten es sich zur Gewohnheit machen, sich mit ihrem Kind abendlich auszutauschen. Sie könnten fragen: Was war heute schön für dich, und was war unglücklich? Eltern können dann auch von sich erzählen, was sie bewegt, kindgerecht natürlich. Dann ist es kein Ausfragen, sondern sie zeigen, dass sie sich wirklich für ihr Kind interessieren.“

 

Diesen Beitrag schließe ich mit folgendem Zitat:

„Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen.“

(Augustinus Aurelius)

 

Quelle: https://www.spiegel.de/familie/kindererziehung-psychotherapeutin-darueber-was-seit-jahrzehnten-schieflaeuft-a-639e5073-b4fb-4ccd-a1d6-9960a42c4441 (abgerufen am 8.10.2021)

Kinder narzisstischer Mütter und Väter

In der Zeitschrift „Der Spiegel“ habe ich wieder einmal einen interessanten Gastbeitrag gefunden, nämlich jenen der Verhaltenstherapeutin Ulla Coulin-Riegger über Kinder narzisstischer Mütter und Väter, die keine Chance erhalten, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten. Wesentlicher Punkt darin war die Darstellung der seelischen Folgen daraus.

Für die Entwicklung von Kindern gibt es nichts Wichtigeres, als von den Eltern gesehen, geliebt und willkommen geheißen zu werden. „Mutter und Vater sollen stolz auf uns sein, denn ihre Anerkennung und bedingungslose Liebe sind das Maß für unseren Selbstwert.“

All das knüpft an die wichtigsten Entwicklungsstufen in der Kindheit an – unser Bedürfnis nach Bindung in den ersten 18 Monaten, gefolgt nach dem Bedürfnis nach Exploration, danach nach Identität und Kompetenz. Kinder können sich gut entwickeln, wenn sie mit ihren Bezugspersonen gute Erfahrungen machen können bzw. mit anderen außenstehenden „Dingen“ (Situationen, Geräten, Natur, Tieren) Erfahrungen erleben, die sie mit ihren Bezugspersonen „Integrieren“, z.B. das Kind, den Spielplatz  erkunden darf und dann stolz zu den Eltern zurückkehren und über die Erlebnisse berichten darf.

Nicht alle Eltern lassen diese gesunde Entwicklung zu, mitunter weil sie diese selbst nicht erlebt haben. Manche Eltern sind narzisstisch in einem ausgeprägten Streben nach Anerkennung und Aufmerksamkeit, überzogenem Geltungsdrang, fehlendem Mitgefühl für andere und starken Manipulationstendenzen.

Coulin-Riegger schreibt: „Kinder narzisstischer Eltern bekommen keine Chance, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten, und werden nicht dabei unterstützt: Sie sollen ja abhängig bleiben, sollen klein bleiben, weniger schön, weniger klug, weniger erfolgreich als Mutter oder Vater. Und damit sie nicht über ihre Eltern hinauswachsen, werden sie mit allen möglichen Mitteln manipuliert.“

Das Verhalten narzisstischer Eltern beninhaltet Kontrolle, Angriff, Herabwürdigung. Ziel ist Kontrolle, um die Oberhand zu behalten. Dazu gehört auch das Dramatisieren, um die Aufmerksamkeit des Kindes zu erlangen. Kommunikation ist dabei selten herzlich, tiefgehend oder wertschätzend, sondern eher ein Duell. Und dazu gehört auch die Verstellung, d.h. die Anpassung des Verhaltens, um den Eltern zu gefallen und eine positive Resonanz zu bekommen. „Eine solche Anpassung ist immer auch Selbstentfremdung und führt beim Heranwachsenden zu Gefühlen der Unwichtigkeit und Nichtigkeit.“

In vielen Fälle bleiben Kinder narzisstischer Eltern lebenslang davon abhängig zu erspüren, was andere von ihnen erwarten. Gerne ergreifen sie sogenannte „Helferberufe“. Dabei hilft ihnen, dass sie kleinste Schwingungen, Stimmungen oder auch Unausgesprochenes sehr genau wahrnehmen können.

Zum Abschluss schreibt Colin-Riegger über einen besonderen Fall: „Ich habe eine Frau in meiner Praxis behandelt, die wie besessen schien von ihrer narzisstischen und manipulierenden Mutter: Wenn sie an der Nummer sah, dass die Mutter anrief, wurde ihr übel, und sie musste sich übergeben. Diese Patientin konnte in den ersten Sitzungen keinen Augenkontakt mit mir halten; bei der Begrüßung schaute sie auf den Boden, und sie kam immer schwarz gekleidet. Sie wollte in keinem Bereich mit mir in einen Wettbewerb geraten, mich nicht an sich heranlassen. Die Sehnsucht nach der Mutter ist ein sehr reißfestes Band. Es zu durchtrennen, erweckt existenzielle Angst (…) Der Patient muss weggeführt werden von der Idee: Ich bin nur ich selbst, wenn ich nach dem Bild der Eltern bin. Manchmal ist es ratsam – zumindest zeitweise, den Kontakt zu dem manipulierenden Elternteil zu unterbrechen und dem Patienten die explizite Erlaubnis dafür zu erteilen. (…) Die oben beschriebene Patientin, die meine Nähe abwehren musste aus Selbstschutz, nahm mich spontan am Ende der Therapie zum Abschied in den Arm. Sie verbat sich Anrufe seitens ihrer Mutter und rief sie von sich aus nur noch alle vier Wochen an, wobei sie das Gespräch ausschließlich auf das Wetter lenkte….  Sie war ausgestiegen aus dem Spiel, ein für alle Mal.“

 

Die Kindheit im Gepäck

Sie wissen vielleicht, dass ich den Titel „Die Kindheit im Gepäck“ schon einmal verwendet habe. Egal wie alt wir sind und in welcher Situation – Kinder bleiben wir. Und auch wenn wir groß und erwachsen sind, oft haben wir noch unsere Eltern und mit diesen im Laufe der Jahre auch so manchen Kampf ausgefochten und so manches vielleicht noch nicht bereinigt. Wie soll man damit als Erwachsener umgehen?

Hans Jürgen Wirth, ein Psychoanalytiker, hat dazu im Spiegel in dem Artikel „Warum man seinen Eltern nicht vorschnell verzeihen sollte“ einige interessante Aussagen getätigt.

Es geht in den Beziehungen Eltern-Kind oft um Erziehung, Bestrafung und Verzeihen. Wie wirkt dies nach, wenn die Kinder „groß“ sind? Was verändert sich oder kehrt sich um? Erwachsene Kinder können besser nachdenken und bewerten, ob ihre Eltern zu ihnen angemessen, fair und liebevoll oder streng und regulierend waren. Was, wenn es körperliche oder seelische Gewalt gab, sogar Missbrauch. Muss oder soll man das später verzeihen?

Wirth schreibt: „Schuldgefühle, die aus verdrängten Hass- und Rachegefühlen resultieren, die Hoffnung, dass einem Gerechtigkeit widerfahren könne, und die illusionäre Sehnsucht, doch noch die schmerzlich vermisste elterliche Liebe zu erhalten, stehen einer offenen Auseinandersetzung mit den Eltern oft im Weg.“

Das stimmt aus meiner Erfahrung. Auch als „erwachsendes Kind“ versucht man oft den Weg der Hinwendung zu den Eltern, um das nicht erfüllte Entwicklungsbedürfnis der Kindheit zu vollenden – und bekommt es doch nicht. Solche Fälle erlebe ich oft in meiner eigenen Beratungspraxis.

Das elterliche Verhalten wird oft entschuldigt, „sie konnten ja nicht anders“. Aber auch hier gilt, dass man sich damit selbst ein Stück weit täuscht, so zu sagen „in die Tasche lügt“. So sagt Wirth: „Denn vor jedem Verzeihen muss es eine Phase der Auseinandersetzung geben, in der das Kind das subjektiv erlittene Unrecht anprangert, sein Leiden artikuliert und die gesamte Palette seiner damit verbundenen Gefühle gegenüber den Eltern ausspricht und ausdrückt.“

Wenn Sie als „Kind“ im Erwachsenenalter auf diesen Prozess verzichten, ersparen Sie Ihren Eltern die Kritik und Auseinandersetzung und sich selbst die Heilung, ein doppelter Verzicht. Verzeihen ist grundsätzlich nichts Schlechtes, aber wer verzeiht, ohne den reinigenden Prozess der Auseinandersetzung zu gehen, landet eher in der oberflächlichen Entschuldigung. Dadurch bleibt der Weg zu einer neuen Ebene der Kommunikation, des Verständnisses und auch vielleicht eine neue Sichtweise auf diesen Menschen versperrt.

Und so kann ich mich den Worten von Wirth nur anschließen: „Der Prozess gelingt, wenn sich zwei Parteien auf eine tiefgreifende Wandlung einlassen und die Bereitschaft zeigen, ihrem Leben eine ganz neue Ausrichtung geben zu wollen. Die Fähigkeit zu verzeihen ist für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen unverzichtbar.“

Nicht jedem steht der Weg offen und nicht jedem ist es gegeben, mit den Eltern diesen Weg zu gehen, bewusst zu riskieren, das Narben aufbrechen und Verletzungen wieder hervorkommen. Manche Menschen haben bis ins Alter noch sehr dominante Eltern, die auch dann noch den Taktstock in der Familie schwingen. Hier kann der Rat Dritter helfen, wie von FamilienberaterInnen oder -therapeutInnen.

Wenn Sie es versuchen, dann lassen Sie sich vielleicht von diesem Bild leiten: „Es geht darum, aus der heutigen Distanz eine neue Einstellung zu den Ereignissen zu entwickeln. Kind und Eltern sind sich im Moment des Verzeihens einig, dass das Vergangene war, wie es war, dass es aber die zukünftigen Beziehungen nicht mehr belasten soll.“

 

Quelle: https://www.spiegel.de/familie/konflikte-mit-den-eltern-wer-zu-schnell-verzeiht-der-taeuscht-sich-selbst-a-00000000-0002-0001-0000-000173732145; abgerufen am 12.04.2021

 

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