Zeit ist ein wirkliches Phänomen. Haben Sie sich überlegt, in wie vielen sprachlichen Wendungen die Zeit vorkommt? Mal ist der Mensch aktiv eingebunden („Ich habe Zeit“, „Ich nehme mir Zeit“, „Ich verbringe Zeit“), mal scheint die Zeit selbst aktiv zu sein auf vielfältigste Art, sie vergeht, läuft ab, wird knapp, wird verloren, verstreicht, heilt (alle Wunden), zieht sich usw. Und dann die vielen Hauptworte, in der sie eingebunden sein kann: Zeitverlust, Zeitnot, Zeitknappheit, Zeitmanagement, Freizeit, Zeitfenster usw.
Offensichtlich ist für viele Menschen die Zeit zu einem Wirtschaftsgut geworden, denn „Zeit ist Geld“. So sieht es auch der Zeitforscher Karlheinz Geißler, der dazu im Standard ein Interview gab. Unter anderem lernte ich daraus, dass es die Uhr seit ca. 600 Jahren gibt und ein Leben nach der Uhr so manche Nachteile mit sich bringt, wie es Geißler formuliert:
„Der Uhrzeitmensch kennt keine lebendigen, bunten und abwechslungsreichen Zeiten, er kennt nur farblose und zählbare Zeiteinheiten. Aber die Zeiten, die im Leben zählen, sind die Zeiten, die nicht gezählt werden.“
Ein pessimistisches Szenario? Oder geht es Ihnen auch so? Wann erleben Sie „Zeit“ und wann sind Sie der „Sklave“ Ihres Kalenders?
Offenbar herrscht der ökonomische Zwang sich der Zeit zu unterwerfen, dem Druck des Terminkalenders, der Erwartung anderer Menschen, dass wir unsere Zeit optimiert und vollgestopft verbringen. Geißler geht davon aus, dass die heute herrschende Zeitverdichtung, verstärkt durch digitale Technologien und multitasking fähige Endgeräte uns eines Tages überlastet.
Geißler empfiehlt, der eigenen Zeitnatur nachzuspüren, sich bewusster auf die Zeit einzulassen, v.a. auf die Übergänge zwischen verschiedenen Aktivitäten. Dazu empfehle ich Ihnen 3 Übungen:
- Wenn Sie das nächste Mal eine berufliche Aktivität wechseln (also z.B. aus einer Besprechung zurückkommen und am Computer arbeiten wollen oder eine inzwischen eingegangene Sprachnachricht beantworten wollen), setzten Sie einen „Übergang“, indem Sie einmal aus dem Fenster schauen oder einen Tee oder Café trinken.
- Nehmen Sie einmal an einem freien Tag (z.B. am Wochenende) die Armbanduhr ab und schauen auch nicht auf die Zeitanzeige Ihres Smartphones, sondern versuchen Sie, dieses Tag bewusst zu erleben, ohne Zeitstruktur.
- Nehmen Sie sich eines oder mehrere Mitglieder Ihrer Familie oder Freunde und versuchen Sie einmal 15 Minuten still zu sitzen und nichts zu tun.
All diese Übungen dienen dazu, zu entschleunigen. Oder wie es Geißler ausdrückt:
„Dieses permanente Tun brauchen viele zur Selbstbestätigung. Man kann sich aber auch über das Lassen selbst bestätigen. Das ist viel stressfreier. Jede Aktivität speist sich aus Passivität. Ist man ununterbrochen aktiv, merkt man die Aktivität nicht – so geht es vielen Managern. Sie spüren ihre Belastung nicht mehr und kippen irgendwann um. Ihnen fehlt die Passivität, die sie in der Burnout-Klinik dann nachzuholen gezwungen werden.“
Vielleicht wollen Sie mal darüber nachdenken – wenn Sie mal wieder „Zeit haben“.
Mit zeitgemäßen Grüßen
Natascha Freund